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Howay The Lads!

Die Spielzeiten in den europäischen Ligen neigen sich ihrem Ende entgegen und vielerorts wird noch um jeden Punkt gekämpft. In Englands zweiter Liga, der ?Coca Cola Championship?, ist das Rennen um die Spitze vor dem 45. Spieltag aber schon längst entschieden.

Einsam thront Vorjahresabsteiger Newcastle United mit sagenhaften 98 Punkten vor dem abgeschlagenen Verfolger West Bromwich Albion und plant bereits für die kommende Premier League Spielzeit. Im letzten Heimspiel der Saison geht es für die Nordengländer gegen den Tabellendreizehnten Ipswich Town nur noch um einen stimmungsvollen Abschied von den Fans und die Präsentation der Meistertrophäe.

Doch alles der Reihe nach ? denn meine Reise beginnt zunächst in Amsterdam. Ein planmäßiger siebenstündiger Zwischenstopp in den Niederlanden gibt mir die Möglichkeit, mich am Freitag in der Hafenstadt ein wenig umzusehen. Bereits der Anflug auf den Schiphol Airport offenbart einen wunderbaren Blick auf die ?Amsterdam ArenA?, die moderne Spielstätte des AFC Ajax. Und auch in der von Kanälen und engen Gassen geprägten Innenstadt ist die Leidenschaft für den Fußball allgegenwärtig ? auf dem ?Damrak?, einer belebten Straße zwischen Centraal Station und dem Nationaal Monument, ziert das Wappen von Ajax Amsterdam jede Menge Merchandise-Artikel, Aufkleber an Gebäuden und Wimpel in Autos, oft mit dem Spruch ?The Home Of Many Legends? versehen. Erstmals an diesem Wochenende kommt Fußballfeeling auf!

Am Abend geht es dann weiter zu meinem eigentlichen Ziel: Newcastle-upon-Tyne. Die Metro bringt mich zur Central Station, wo mir erstmals das städtische Fußballstadion als Wandmalerei begegnet. Generell machen die Menschen in der rund 270.000 Einwohner zählenden Nordost-Metropole mit solchen Kleinigkeiten gerne deutlich, wie Stolz sie auf ihre Region und ihren Verein sind. Die Metrostation ?St James? enthält eine ähnliche Wandmalerei mit der Vereinsgeschichte des ansässigen Klubs. Der Weg durch die ?Toon?, wie die Stadt in Anlehnung an das Wort ?Town? genannt wird, führt mich direkt am Herzstück Newcastles, dem Fluss ?Tyne?, vorbei, der gemeinsam mit den umliegenden, im mittelalterlichen Stil entstandenen Gebäuden ein unverwechselbares Panorama bietet.

Die klassischen Blickfänger entlang des Tyne-Ufers sind zum einen die zahlreichen Brücken, zum anderen ?The Baltic?, eine riesige Galerie, und ?The Sage?, eine hochmoderne und architektonisch anspruchsvolle Konzerthalle. Das erste Bier meiner Reise (ein Guiness) erwartet mich in einem der unzählig vorhandenen typisch britischen Pubs der Stadt, bevor es schließlich zur Wohnung meines Gastgebers geht. Vom Fenster meines Schlafzimmers aus blicke ich nicht nur über die Sehenswürdigkeiten der Tyne ? sondern auch auf die mitten über dem Stadtzentrum prangende Metallkonstruktion: das Dach des St. James? Park, des Stadions von Newcastle United.

Seit ihrer Gründung im Jahre 1892 spielen die ?Magpies? (die Elstern), wie das Team aufgrund seiner schwarz-weißen Vereinsfarben genannt wird, ununterbrochen im St. James? Park. Erst zwischen 1993 und 1995 ließ der legendäre Vereinspräsident Sir John Hall, dem auch der Name des North Stand gewidmet wurde, das Stadion umfangreich renovieren und ausbauen. Nach seiner letzten Umbauphase anno 2000 erreichte das Stadion seine heutige Kapazität von 52.387 Plätzen, was es zur viertgrößten Fußballstätte des Landes macht (lediglich Wembley, Old Trafford und das Emirates Stadium bieten mehr Plätze).

Die zentrale Lage der Arena ist für englische Verhältnisse eher ungewöhnlich, bietet aber zwischen uralten Kirchen und dem klassischen Stadtkern ein beeindruckendes Bild. Gleichzeitig ist so auch für einen entspannten Fußweg zum Stadion gesorgt, auf öffentliche Verkehrsmittel verzichten wir deshalb am darauffolgenden Morgen gänzlich. Mein Gastgeber führt mich schon zeitig aus dem Haus, weil sein Kühlschrank zum einen nur spärlich gefüllt ist (ein paar Flaschen Bier befinden sich in der Gesellschaft von einigen Kartoffeln und etwas Milch) und wir zum anderen die Zeit nutzen, um uns an der Tyne umzusehen. Das Image der Industriestadt hat Newcastle, ähnlich wie Dortmund, schon längst abgelegt. Inzwischen hat sich die Stadt in der Grafschaft Tyne & Wear zum kulturellen Zentrum des Nordens gemausert.

Vor dem Spiel gibt es im ?The Goose? nahe des Stadions noch Verpflegung in Form von Alkohol, nebenbei läuft das Premier League Spiel zwischen Manchester United und Tottenham Hotspur (Endstand 3-1) auf den zahlreichen Flatscreens des Pubs. Überraschenderweise wird nicht das berühmte Newcastle Brown Ale, sondern Carlsberg und Guiness ?extra cold? serviert.

Die Premier League ist in Newcastle ein Luxusgut, auf das man ein ganzes Jahr verzichten musste. Seit 1993 spielte man stets in der höchsten englischen Spielklasse, unter Kevin Keegan und Bobby Robson fand man sich zwischen 1996 und 2004 gar desöfteren in der Ligaspitze wieder. Finanzielle Probleme und schlechtes Management belasteten den Verein, 2009 folgte der überraschende Abstieg - die Eliteliga gibt es seit dem nur noch auf dem Fernseher zu begutachten.

Bemerkenswert ist die praktisch nicht vorhandene Polizeipräsenz in und um das Stadion. Auf der kurzen Wegstrecke sind lediglich eine handvoll berittene ?Bobbys? zu sehen. Dementsprechend verhalten sich sowohl die Anhänger der ?Magpies? als auch die aus Südengland angereisten ?Tractor Boys?, wie die Fans von Ipswich Town genannt werden, äußerst friedlich.

Die Konstruktion des St. James? Park ist ein besonderer Blickfang. East & South Stand haben eine enorme Größendifferenz im Vergleich zu den beiden Mainstands. Genau genommen fasst die Gegentribüne, der East Stand, lediglich 5.000 Plätze, die Haupttribüne, der ?Milburn Stand? (benannt nach Vereinslegende Jackie Milburn), bietet hingegen Platz für 14.000 Zuschauer. Begrenzt werden die freien Flächen neben den Oberrängen der großen Tribünen durch eine große Glaskonstruktion.

Eine ganze Stunde vor Anpfiff trete ich dann meinen Weg auf den Sir John Hall Stand an. Nachdem ich mit meinem Ticket (Kosten: 25£, für Heimfans teils deutlich günstiger) die Drehkreuze durchquert habe, muss ich ganze 14 Etagen erklimmen, bis ich endlich im Auswärtsblock unter dem Dach der Tribüne angekommen bin. Die Ränge sind zu diesem Zeitpunkt noch leer, die Insulaner nehmen traditionell erst kurz vor dem Anpfiff ihre Plätze ein.

Die Umsiedlung der Auswärtsfans unter das Dach der Hintertortribüne sorgte vor zwei Jahren zwar für viel Kritik aufgrund der großen Entfernung zum Spielfeld, allerdings hat die Lage auch ihre Vorteile: über den kleinen East Stand hinweg, dessen Dach der dicke Schriftzug ?Newcastle United? ziert, hat man einen perfekten Blick auf das Stadtzentrum und die herausragende Millenium Bridge und die Tyne Bridge. 
Großes Tamtam, wie in deutschen Stadien üblich, sucht man vergebens vor dem Anpfiff. Es laufen ein paar aktuelle Popsongs, die Mannschaftsaufstellungen werden trocken vorgelesen, ein Club-Jingle kündigt den nahenden Spielbeginn an. Zum Einlauf der beiden Teams, die bei ihrem Weg durch den Spielertunnel unter dem Schriftzug ?Howay the lads? (Nordenglisch für ?Come on the lads?) entlang laufen, hat sich das Stadion schließlich gefüllt ? und mit offiziell 52.181 Zuschauern wird sogar ein neuer Zweitliga-Zuschauerrekord aufgestellt.

Das Spiel selbst bietet zunächst wenig nennenswertes und plätschert ohne große Highlights dahin. Auf den Rängen ist die Stimmung dafür in den ersten 20 Minuten fabelhaft, auch bedingt durch die besondere Lage der beiden Fangruppen: die mich umgebenden Auswärtsfans sitzen direkt neben dem harten Kern der ?Toon Army?, wie sich die treuesten der treuen Heimsupporter nennen. Getrennt werden beide Seiten durch grade einmal vier (!) Ordner ? in Deutschland undenkbar.

Diese Konstellation sorgt für ein munteres Hin und Her der Gesänge, wobei oft auch wild Richtung gegnerischer Fans gestikuliert wird. Typisch englisch ist auch das direkte Reagieren auf Gesänge ? so huldigen die Ipswich-Anhänger ihrem Trainer, Manchester United-Legende Roy Keane, mit lauten ?There?s only one Keano?-Rufen ? die Heimfans antworten darauf mit einem ?He wanks his dogs, Keano? (auf eine Übersetzung verzichte ich aus Gründen des Jugendschutzes). Die dazugehörige Handgeste gibt es von seiten der Newcastle-Supporters jedesmal, wenn Keane seine Trainerbank verlässt.

Beeindruckend ist allerdings, wie schnell dieses Geplänkel sich zu gegenseitigem Respekt dreht. Mehrfach stimmen Fans beider Seiten ?One Bobby Robson? an ? der im vergangenen Jahr verstorbene Coach trainierte erfolgreich beide Vereine ? die Gegenseite stimmt jeweils mit ein, am Ende applaudieren sich beide Seiten dafür.

Nach 26 Minuten verstummen die Gästefans ? Andy Carroll bringt Newcastle mit seinem 17. Saisontreffer per Kopf in Führung. Das bis dato maue Spiel gewinnt danach genau wie die Stimmung nicht an Fahrt, offenbar haben sich Spieler und Fans in Newcastle im Laufe der Saison zu sehr ans Siegen gewöhnt. Die berühmte Atmosphäre, wie man sie vom Tyne & Wear Derby zwischen Newcastle und dem verhassten Sunderland kennt, kommt jedenfalls nicht auf.

Chancen bleiben Mangelware, aber nach 42 Minuten wird dann zumindest der Gästeblock wachgerüttelt. Nach einem Kopfball von Jon Walter steht plötzlich Connor Wickham frei vor dem Kasten und versenkt das Leder mit einem sattem Rechtsschuss zum 1:1.
Den Namen Connor Wickham sollten sich anbei alle Fußballfans gut einprägen ? der junge englische Nachwuchs-Nationalspieler feierte grade einmal drei Wochen zuvor seinen 17. Geburtstag und traf bereits zum 6. Mal in dieser Spielzeit. Immer wieder setzte der Teenager seine 1,94m geschickt gegen den erfahrenen argentinischen Nationalspieler Fabricio Coloccini ein und beeindruckte ebenso mit feiner Technik. Die medialen Vergleiche mit dem jungen Wayne Rooney scheinen nicht allzu weit hergeholt.

Die Qualität in der zweiten Halbzeit bleibt unverändert, auf dem Platz passiert eher wenig. Einziges Highlight sind die Dribblings von Jonas Gutierrez ? der Flügelspieler der Gastgeber vernascht immer wieder zahlreiche Gegner, erinnert in seiner Effektivität aber eher an den Mohamed Zidan au seiner ersten BVB-Saison und übertreibt es oft mit seinen Einlagen. Dafür nimmt die Stimmung auf den Rängen wieder etwas zu: der Anhang aus Ipswich startet mehrere Laola-Wellen, die es jedoch nie über die Kurve der ?Toon Army? hinweg schaffen. Jedes Scheitern einer Welle wird mit lauten Buh-Rufen der Gäste quittiert, unmittelbar gefolgt vom nächsten Versuch. Als sich dann zumindest einige wenige Newcastle Fans aufraffen und mitmachen, gibt es Applaus.

Kurz vor dem Ende des Spiels dann noch einmal Aufregung auf dem Rasen: statt den Ball vor der eigenen Torauslinie aus der Gefahrenzone zu bolzen, spielt Ipswichs Verteidiger Liam Rosenior einen Diagonalpass in den eigenen Strafraum. Nicky Butt geht im letzten Spiel seiner Karriere dazwischen und wird von Grant Leadbitter zu Fall gebracht ? Elfmeter. Der eingewechselte Shola Ameobi bringt Newcastle nach 83 Minuten erneut in Führung, das Spiel scheint zu Gunsten des hauhohen Favoriten entschieden.

Nach dem 2:1 demonstriert der St. James? Park erstmals sein großes Potenzial: alle vier Ränge stimmen mit ein in den ?Champio-nes?-Gesang (ein rhytmusbedingter Mix aus dem englischen ?Champions? und dem spanischen ?Campeones?) und generieren eine tolle Atmosphäre. Schade, dass man diese Stimmung nur selten in den 90 Minuten erlebt ? aber da es für beide Teams um nichts mehr geht, ist das nicht unbedingt überraschend.
Tief in der Nachspielzeit öffnet Ipswichs ?Player of the Year? Jack Colback das Spiel mit einem feinen Pass in die Spitze und Newcastles Hintermannschaft wird überrumpelt ? Jon Walters steht frei vor Keeper Harper und schiebt in der 94. Minute zum Ausgleich ein. Ausgelassener Jubel bricht im Gästeblock aus. Es gibt etwas ironische ?easy, easy, easy?-Rufe in Richtung Heimfans. Das 2:2 ist die letzte Aktion des Spiels, mit dem Wiederanstoß pfeift Schiedsrichter Boyeson die Partie ab. Ipswich feiert einen überraschenden (und späten) Punktgewinn in der ?Fortress? St. James? Park (United bleibt in dieser Saison ohne Heimniederlage) und die Heimfans nehmen?s gelassen. Sie jubeln der Mannschaft um Trainer Chris Hughton bei der Siegerehrung zu ? das erste Edelmetall für die ?Geordies?, wie die Einwohner der Region genannt werden, seit 1993. Während der Feier und der ?Lap of Honour? applaudiert auch der Gästeblock artig.

Ebenso fair bleibt die Stimmung nach dem Spiel. Keine Anfeindungen, kein Frust auf beiden Seiten. Ganz im Gegenteil wünscht mir ein Newcastle Fan unter der Tribüne sogar noch einen ?Good Day? ? den hatte ich, genau genommen sogar zwei. Newcastle ist - wie auch Amsterdam - eine Reise wert, sowohl für Fußballfans als auch für Touristen und Kulturinteressierte. Die Anhänger sowohl von Ipswich als auch von Newcastle haben Respekt und Fairness demonstriert. Davon könnten sich einige der deutschen Fans eine Scheibe abschneiden.

, 05.05.2010

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