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Hertha BSC - arm und unsexy

Kommentar

Die Premier-League ohne Chelsea und Arsenal? Die Primera Division ohne die ?Königlichen?? Italien ohne den AS Rom? In jedem anderen europäischen Land würde der Abstieg eines Hauptstadtclubs zu einer mittleren Staatskrise führen. Nicht so in Deutschland. Hertha BSC gilt im Moment als ?unbeliebtester Verein der Liga? (lt. Untersuchung der Technischen Universität Dortmund) und hat mit dem Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit viele Anhänger verprellt.

Es war ein Absturz mit Ansage, der vor fast genau einem Jahr begann. Damals schien der Deutsche Meister der Jahre 1930 und 1931 noch an eine glanzvolle Vergangenheit anknüpfen zu können, die selbst den Ur-Oldies unter den Fans noch nicht einmal in rudimentärer Erinnerung geblieben war. Am 23.5.2009 stand Hertha BSC auf Platz 4 der Abschlusstabelle, hatte selten beeindruckend, aber meist sehr effektiv gespielt und sich so zur Überraschungsmannschaft der Saison 2008/2009 gemausert. Das war vor allem ein Verdienst der Schweizer Meistertrainers Lucien Favre. Zwar war der Offensivfußball über wenige Stationen, den Favre noch zu seiner Zeit beim FC Zürich erfolgreich zelebrieren ließ, nur selten zu sehen, aber endlich war wieder eine Spielanlage erkennbar, die auf früher Balleroberung basierte und den Gegner beschäftigte. Das oftmalige Herumgegurke unter dem völlig überbewerteten Falko Götz respektive der Zuschnitt des Spiels auf den damals unersetzbaren Marcelinho waren im Papierkorb der Berliner Fußballgeschichte gelandet. Favre hatte mit einigen klugen Transfers wie Raffael, Kacar, Lustenberger oder van Bergen eine Einheit geformt, die sich mit den Besten der Liga messen konnte.

Die Fans träumten bereits von einer goldenen Zukunft, doch schon seit längerer Zeit krachte es lautstark in den Chefzimmern der Hertha-Geschäftsstelle. Präsident Werner Gegenbauer suchte den offenen Machtkampf mit seinem Manager Dieter Hoeneß, der vielen im Vereinsumfeld schon länger ein Dorn im Auge war.


Der als autokratisch und beratungsresistent geltende Hoeneß hatte bei seinen Transfers nur selten eine glückliche Hand bewiesen, dafür aber jede Menge Geld verbrannt und den Klub 2006 an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gebracht. Jetzt lagen auch auf der anfangs so fruchtbar erscheinenden Zusammenarbeit mit Favre dunkle Schatten, nachdem sich der Trainer bei einigen Transfers offen gegen Hoeneß gestellt hatte. Der verlor im Laufe des Jahres 2009 gänzlich den Rückhalt in den eigenen Reihen und musste zur Sommerpause, versüßt mit einer millionenschweren Abfindung, den Hut nehmen. Sein langjähriger Novize und Kofferträger Michael Preetz folgte ihm und sollte den Anti-Hoeneß geben: Kommunikativ, integrativ und teamfördernd.

Doch was wie ein Neuanfang aussah, entpuppte sich schnell als ein Sturm im Wasserglas. ?Der Traum ist, Hertha BSC mit einem vernünftigen wirtschaftlichen Fundament in der Spitze der Bundesliga zu sehen?, verkündete der mächtige Präsident Werner Gegenbauer damals, doch der Traum blieb aus. Gegenbauer setzte wegen der Schuldenlast der Hertha gegen die Interessen von Preetz und vor allem von Favre einen rigorosen Sparkurs durch, verkaufte etwa mit Joe Simunic einen der damals besten Innenverteidiger der Liga, ohne Mittel für einen adäquaten Ersatz bereit zu stellen. Ohne den kroatischen Hünen glich die einst so sichere Abwehr zu Saisonbeginn einem Sack Flöhe, denn Kapitän Arne Friedrich war in der Rolle des alleinigen Abwehrorganisators überfordert. Noch schlechter sah es in der Offensivabteilung aus: Favre hatte durchgesetzt, dass der schwer erziehbare, aber verlässliche Top-Torjäger Marco Pantelic gehen sollte, zudem wurde aber auch der ausgeliehene Voronin zurück nach Liverpool geschickt. Als Ersatz wurde auf Geheiß von Gegenbauer ausgerechnet Arthur Wichniarek verpflichtet, der bei seinem ersten Engagement in Berlin sämtliche Sympathien bei den Fans verspielt hatte. Der einsatzwillige, aber glücklose Pole wurde schnell vor den frühen Pfiffen der eigenen Anhängerschaft geschützt und auf die Ersatzbank verbannt. Zusätzlich kamen der Kolumbianer Ramos und der Brasilianer Cesar zu Schnäppchenpreisen und der Dortmunder Kringe als Leihgabe, für den der BVB die Hälfte der Gehaltskosten übernahm.


Angesichts der fehlenden Mittel für Alternativen war früh absehbar, dass es eine schwere Saison werden würde. Favre hatte sich mit seinen ursprünglichen Transferwünschen nicht durchsetzen können, so dass dem spielstarken, aber jungen Team eine Achse erfahrener Führungsspieler fehlte. Das rächte sich bitter. Hertha startete mit fünf Niederlagen aus sechs Spielen in die neue Spielzeit, der einst so gute Teamspirit war internen Kämpfen gewichen und nicht wenige behaupten, dass Favre dazu einiges beigetragen habe. Nach dem frühen Pokalaus bei 1860 München wurde ein Mentalcoach engagiert und zur Vorbereitung auf das wichtige Auswärtsspiel in Hoffenheim ein ?Besinnungstrainingslager? bezogen. Es half alles nichts: Hertha ließ sich von der Rangnick-Elf wie eine Schulmannschaft vorführen, kassierte nach 44 Sekunden das erste Gegentor, das zweite nach vier Minuten. Am Ende standen ein 1:5 und der Entschluss des Hertha-Vorstandes, die Reißleine zu ziehen. Lucien Favre wurde entlassen. Der Traum, mit einem Perspektivteam in die Höhen der Liga und Europas vorzudringen, war endgültig begraben.

Es folgte eine Personalentscheidung, die ein Verein eben trifft, wenn er am Boden liegt und von jedem Mut verlassen ist: Mit Friedhelm Funkel wurde ein Mann der alten Schule verpflichtet, erfahren in vielen Ab- und Aufstiegskämpfen und mit einem Fable für die Fußballformel ?Die Null muss stehen?. Für eine im offensiven Systemfußball geschulte Elf war das eine Paradigmenwechsel erster Güte, das Ergebnis war wochenlang auf dem Platz zu besichtigen. Der Tabellenletzte zeigte sich in der Abwehr deutlich stabiler, doch die wenigen und durchsichtigen Nadelstiche nach vorn deuteten nur sporadisch an, dass mit Beginn der Winterpause noch zehn Punkte auf den Relegationsplatz gut zu machen waren. Umso überraschender war der Start in die Rückrunde. Mit dem besten Spiel in dieser Saison gelang den Berlinern ein 3:0-Erfolg in Hannover, Gekas im Sturmzentrum und Kobiashvili auf der linken Seite zeigten sich als die erhofften Verstärkungen.

Einen Teil des neu gewonnenen Selbstbewusstseins konnte die Mannschaft ? und vor allem ihr Trainer - noch bis zur unglücklichen Nullnummer gegen Mönchengladbach in der Folgewoche retten, danach war wochenlang wieder Schluss mit lustig. ?Warum bin ich eigentlich in Berlin? Ich bekomme ja sowieso keine Bälle?, moserte Theofanis Gekas via BILD und auch sein Mitspieler Cicero griff die Funkelsche Vorsichtstaktik öffentlich an: ?Wir stehen einfach zu defensiv.? Der Kritik schlossen sich nicht nur die gesamte Berliner Presse und die große Mehrheit der Fans an, sondern auch Mitglieder des Aufsichtsrates. Im folgenden Auswärtsspiel stellte Funkel sein System um und fuhr beim 0:3 den zweiten Auswärtserfolg der Saison ein.

Spät ? zu spät ? hatte der Trainer erkannt, dass nicht allein der riesige Abstand auf einen Relegationsplatz eine taktische Veränderung erforderlich machte, sondern auch die Tatsache, dass die Mannschaft das offensive Konzept seines Vorgängers Favre tief verinnerlicht hatte. Jetzt, erst jetzt, konnte die Mannschaft ihre Stärken wieder ausspielen und wurde zu Recht von der Konkurrenz als einer der spielstärksten Tabellenletzten der Bundesligageschichte gefeiert. Doch die notwendigen Punkte wurden nicht geholt. Im Gegenteil: Am letzten Spieltag toppte das Team den peinlichen Rekord von Tasmania Berlin aus der Saison 1965/66, der eigentlich als «ewige Bestmarke» galt. Tasmania hatte zumindest das erste und das letzte Heimspiel gewonnen, Hertha blieb in 16 Spielen im Olympiastadion nacheinander ohne ?Dreier?.

Die Fans goutierten die blamable Saison mit wütenden Schmährufen, was die Mannschaft dazu veranlasste, sich nach dem letzten Spiel nicht einmal von den Fans zu verabschieden. Der Thread dazu im Hertha-Fan-Forum heißt dann auch treffend: ?Und die Schande hat einen Namen.? Gemeint war nicht etwa der Name eines Spielers, sondern der des Clubs. Es war das sichtbarste Zeichen einer zunehmenden Entfremdung zwischen Mannschaft und Anhängern. Viele von ihnen spüren seit Langem den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen hohen Saisonzielen und mageren Ergebnissen. Hertha prahlt mit sportlichen Großmachtsphantasien und ist in Wahrheit doch nur vereinsgewordene Mittelmäßigkeit. Berlins Regierender würde sagen: ?Arm und ziemlich unsexy?.

Und als ob der Abstieg nichts in den Hertha-Köpfen bewirkt hätte, wurden die Trauben gleich wieder ganz hoch gehangen. Das Saisonziel lautet ?sofortiger Wiederaufstieg? - das verkündete der Verein bereits, als die Abstiegtränen der Fans noch nicht getrocknet waren. Mutig, sagen die einen - gefährlich, sagen die anderen. Die Umsetzung dieses Ziels dürfte jedenfalls zur Meisterprüfung für Michael Preetz werden, dessen Gesellenzeit wenig meisterhaft verlief. Doch er hat den Segen des Vorstandes und darf sich weiter ausprobieren. Mit einem Etat von 13 Millionen Euro (statt bisher 30 Millionen) wird er viel Verhandlungsgeschick benötigen, um einige Leistungsträger zu halten und neue Perspektivspieler zu verpflichten. Das wird die Voraussetzung dafür sein, dass ein erfolgshungriger Perspektivtrainer wie Markus Babbel, der als Topfavorit gehandelt wird, seine Unterschrift unter einen Vertrag setzt. Und wenn die sportlichen Fragen geklärt sind, kommt die vielleicht schwierigste Aufgabe für Preetz: das Selbstverständnis und die Außendarstellung des Vereins den Realitäten anzupassen. Denn sexy ist nur, wer sich nicht verstellt.

, 15. Mai 2010

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