Magazin für Freunde des Fußballs und seiner Kultur

Wir über uns

 | 

Impressum
Home
Gelbfieber
Konferenz
Smalltalk
Abgegrätscht
Freier Raum
Kirsche-Shop
< November 2010 >
Mo Di Mi Do Fr Sa So
1 2 3 4 5 6 7
8 9 10 11 12 13 14
15 16 17 18 19 20 21
22 23 24 25 26 27 28
29 30  

Nationalelf:

REVIER-Kolumne:

Redaktionssitz:

Heimfahrt

Das Spiel gegen Energie Cottbus ist vor 20 Minuten abgepfiffen worden. Eine schwarzgelbe Karawane wälzt sich durch den Südausgang, vorbei am Stadion Rote Erde. Wortfetzen bestätigen: Das Wochenende ist gerettet. ?Wir sind heute in der Bundesliga angekommen?, behauptet ein schmächtiger ?Jan Koller? im Trikot von 2003. Sein Begleiter kann nicht antworten. Allen Gesetzen nach Spielende zum Trotz, kommt ihm ein säbelbeiniger Mann in kurzen Hosen und gelbem T-Shirt entgegen, Schal um den Hals, Bergsteigerschuhe und heruntergrollte Socken. Der Blick ist glasig entschlossen nach vorne gerichtet, die Füße gehen mitunter ihre eigenen Schlangenlinien auf dem Weg gegen den Strom. Der Mann ist bereit zur Erstbesteigung der Südwand.

Die Menge teilt sich mehrmals, ein Strang führt zum U-Bahnhof ?Stadion?, der nur an Veranstaltungstagen angefahren wird. Kreischend kehren Straßenbahnen in der großen Schleife und halten wenig später im ständigen Wechsel an Gleis 1 und 3. Mitten dazwischen auf dem Bahnsteig eine unübersehbare Horde in Schwarzgelb. Einige halten einen bestimmten Verein weiter im Westen auch nach dem Sieg über Cottbus für wichtiger als die eigenen Farben. Sie singen mehr über die Blauen als über die Schwarzgelben. Wovon das Herz überläuft?

Kaum setzt sich eine Straßenbahn wippend und wankend in Bewegung ? wer auf der Südtribüne nicht mitgehüpft hat, verfügt noch über die erforderlichen Reserven, im Wageninneren die BVB-Gymnastik zu betreiben ?, rollt der nächste Zweiwagenzug herein. Über allem steht wie ein Tennisschiedsrichter in einem Korb am Kopf des U-Bahnhofs ein Zerberus mit Mundmikrophon, der das Ziel ? stets Hauptbahnhof ? ansagt, um Vorsicht bittet und das Klopfen mit flachen Händen auf die Fensterscheiben der Straßenbahn untersagt.

Kaum hält der Zug der Linie U45 an Gleis 3, ist die schwarzgelbe Solidarität beendet. Wer eben noch gemeinsam gegen Blau gesungen hat, übt sich jetzt in Fan-Darwinismus. Man gewinnt den Eindruck, hier geht?s ums blanke Überleben. Und es überlebt nur, wer sofort seinen Platz in der U-Bahn ergattert. Sie schubsen und schieben, fluchen und kreischen. Andere leiden schweigend und lassen sich schieben. Plötzlich stockt die Menge vor dem Eingang des hinteren Endes. Ein weißblonder Junge, dem die Haare schweißnass in Gesicht und Nacken kleben, bleibt starr stehen, blockt die schiebende Menge hinter sich ab und hält sich verzweifelt am Türpfosten der Bahn fest. In einer Hand hält er eine Fahne, die andere ist seltsam verkrampft.

"DER FAN" - das unbekannte Wesen...

"DER FAN" - das unbekannte Wesen...

Rücksichtslos und fluchend wühlt sich ein glatzköpfiger Fan weit jenseits der dreißig an ihm vorbei. Ein älterer Mann stellt sich schützend hinter den Jungen: ?Seht ihr nicht, dass er behindert ist?? ruft er und wird ebenfalls von hinten fast erdrückt. Noch ein Glatzkopf quetscht sich ungerührt vorbei Endlich greift ein zweiter Mann ein. Ein Kerl mit dröhnender Stimme und Furcht einflößender Statur. Er trägt Schwarz und macht mit seiner Baseballkappe selbstlos Werbung für Nike Air. Der Gute ist etwas aus der Mode, er trägt die Kappe falsch herum. Aber es gelingt ihm, die Umstehenden soweit einzuschüchtern, dass die starr vor Schreck zurückweichen. Die beiden Männer helfen dem Jungen in den Zug, alle Plätze sind besetzt. Der an den Augen gepiercte Klotz herrscht ein junges Mädchen an, das seine Haare vermutlich mit Schuhcreme schwarz gefärbt hat. ?Steh auf, verdammt, lass ihn da sitzen.? Beim dritten Mal steht das verdatterte Mädchen schweigend auf, der Junge setzt sich. Alle Umstehenden glotzen.

Im Mittelteil des Wagens stimmen wieder Schwarzgelbe mit dem Blaugesang-Syndrom ein Lied aus ihrem übersichtlichen Repertoire an. Bei Abfahrt des Zuges folgt: ?Oh, wie ist das schön?, was wiederum im krassen Gegensatz zu den musikalischen und rhythmischen Gefühlen etlicher Mitfahrer steht. Denn die Liedertafel unterstreicht ihren Gesang mit Klopfen der flachen Hände gegen die Wände. Es scheint schwierig zu sein, sich mit fünf Leuten auf gemeinsame Klopfzeichen im Rhythmus des vorgetragenen Werkes zu einigen.

Die Baseball-Kappe wendet sich jetzt der allgemeinen Unterhaltung zu, deren Führung selbstredend nur er in einem U-Bahnwagen hat. Er blökt einen Erkennungsruf laut durch den Wagen, am hinteren Ende antworten seine Kumpels. Es sind die, die eben noch versucht haben, den blockierenden Behinderten platt zu machen. Markus ? der Mann kann nicht umhin, sich vorzustellen ? übernimmt souverän die Gesangsregie. ?Oh,lala, wir haben einen Torwart?, gibt er zum Besten. Aber erstaunlicherweise glaubt ihm das hier keiner. Denn niemand singt mit. Er bricht ab und erzählt jedem, der es nicht wissen will, ab der Haltstelle Stadiongarten, dass ?Weidenfeller sowieso schwul? ist. In den Wortfetzen geht unter, wie er seiner engsten Umgebung beweisführend etwas von einer Weihnachtsfeier mit Weidenfeller und Kehl erzählt. Man kommt ins Grübeln. Kehls Knieverletzung könnte ja auch andere Ursachen haben. Was das wiederum mit dem Abwehrvermögen Weidenfellers zu tun haben könnte, bleibt Markus? Geheimnis.

Der Gesang des Blausyndrom-Quintetts geht Markus auf die Nerven. ?Wir singen was Handfestes?, dröhnt er über die Köpfe der Umstehenden hinweg seinen Kumpels zu. ?Aber hier drinnen sind ja nur 16- und über 60-Jährige? murmelt er fast resigniert. Mit deutlich jenseits der 40 sollte man vielleicht mit solchen Bemerkungen allmählich selbst etwas kürzer treten.

?Wir lagen träumend im Gras? deklamiert einer der Kumpels hinten im Wagen. Es entwickelt sich eine interessante Form des atonalen Sprechgesangs, der bei einer gezielten Aufführung im Dortmunder Konzerthaus gewiss den Beifall des kundigen Publikums entfacht und das Werk einem gewissen zeitgenössischen Opernkomponisten Hans Werner Henze alle Ehre gemacht hätte. Die Aufführenden erscheinen einigermaßen textsicher, der Chorgesang fällt dagegen mickrig aus. Entweder kann der Rest den Text nicht, oder er mag nicht singen. An der Tür mischt sich subversiv eine heisere Stimme ein. Hier kann einer endlich richtig mitmachen: Rotblonde Haare, deutlich jenseits der 60 und im zerfurchten Gesicht die Spuren eines Lebens, das offenkundig nur mit reichlich Alkohol zu bewältigen ist. Markus staunt lautstark. Ausgerechnet der alte Sack singt das Lied, unaufhaltsam.

Markus verfällt in finsteres Grübeln und beschließt, weitere Ansätze von Gesangsdarbietungen zu unterlassen. Lieber widmet er sich einem Hänfling zu seinen Füßen, der auf dem Schoß seines Kumpels Platz genommen hat. Der trägt ein weißes Trikot mit roten Absetzungen. ?Auswärtstrikot??, fragt er neugierig. ?Nö, Polen?, sagt der Junge mit der Frisur eines Leithahns im Hühnerhof. ?Polen, he, he. Hast du wenigstens Ebi hinten?? Nein, der Junge mit dem Hahnenkamm hat Ebi nicht hinten. Ist vermutlich angesichts der jüngsten Ereignisse keine schlechte Entscheidung gewesen. Der Junge hat hinten nichts, und das war nämlich so: Umständlich beginnt er zu erzählen, wie er beim Fußball-WM-Spiel ?hier in Dortmund? gegen Polen das Trikot erwarb. Die Geschichte wäre für die weitere Fahrt sicher ausbaufähig gewesen, aber sie endet prosaisch mit der ernüchternden Feststellung: ?Ich war zu besoffen, um mir was draufmachen zu lassen.? Beifall bleibt aus, aber es scheint allgemeines Verständnis zu geben. Alkoholdunst durchweht den Wagen.

Dortmund Hauptbahnhof. Endstation. Die Liedertafel mit der Blauzungenkrankheit lässt jetzt einen größeren Kreis des nun noch weniger geneigten Publikums seine Darbietungen genießen, was wegen der ausbleibenden rhythmischen Begleitung und der Möglichkeit, sich dünne zu machen, aber durchaus erträglich erscheint. Der gepiercte Markus und seine Kumpels zeigen der Jugend und dem Alter, wie fit sie sind, als sie auf die Rolltreppe hüpfen, während vornehmlich Ältere die Treppe nehmen.
Der weißblonde behinderte Junge hat es auch geschafft. Mit eingerollter Fahne trollt er sich. ?Gewonnen?, sagt er leise, als er vorbeigeht.

, 26.08.2007

Kirsche-Forum
BVB-Forum

Aktuelle Infos:

Medienkolumne:

Fan-Kolumne:

Fotos: