Magazin für Freunde des Fußballs und seiner Kultur

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Dortmund steht hinter euch

Mittwoch, 14.06.2006. 21:48 Uhr. Zusammen mit sieben Freunden stehe ich, wie Zehntausend andere auch, auf dem Friedensplatz in der Dortmunder Innenstadt - umringt von hunderten Fahnen und Trikots in den Nationalfarben, als mich ein Anruf nach dem anderen auf dem Handy erreicht. Nur schwer höre ich die Frage an der anderen Seite der Verbindung: "Gehts euch gut? Alles ok bei euch?" 

Na ja was soll schon sein? Bis auf, dass Poldi in der 44. Minute die Kirsche nicht in die Maschen gehauen hat?!? Erst ein paar Sekunden später, als ich den Polizeihubschrauber über uns erspähe und mein Nachbar per SMS von einer Schlägerei auf dem "Alten Markt"  erfährt, begreife ich was los ist: Die Hooligans zerstören unser Fußball-Fest.

Die Zugänge zum Friedensplatz sind zu diesem Zeitpunkt längst gesperrt. Wir sind also sicher und genießen das Fest auf dem Friedensplatz zusammen mit Tausend anderen Fans aus allen Herren Ländern. Der Australier hinter uns schwärmt mittlerweile zum vierten mal von dieser grandiosen Stimmung - die Nachricht der wütenden Hooligans hat ihn noch nicht erreicht und spätestens als David Odonkor eine Flanke auf Oliver Neuville schlägt, tausende Arme vor mir in den Himmel gestreckt werden, meine Freundin mir schreiend in die Arme fällt und alle Menschen nur noch fassungslos umher springen und jeden umarmen, der ihnen gerade in die Arme fällt, verliert niemand mehr einen Gedanken an prügelnde Hooligans. Den Abpfiff der Partie nimmt kaum einer wahr. Wie auch? Die Sicht wird durch die Hunderte Fahnen versperrt und noch immer finden sich irgendwo Leute, die man seit dem Tor von Neuville in der 93. Spielminute nicht in die Arme geschlossen hat. Danach setzt irgendwann das Zeitgefühl aus. Ob es 5, 10 oder 30 Minuten nach Abpfiff war, als sich die Hälfte des Friedensplatzes plötzlich hinsetzte und nach einer Welle auch noch eine ?Humba? startete weiß ich nicht mehr. Wen interessiert es auch?!

Wir verlassen die Fanparty in Richtung WM-Meile, die Stadion und Innenstadt verbindet. Noch kurz eine Welle mit den wartenden Feuerwehrleuten, danach geht es auf den Stadtring, dessen Verkehr längst zusammengebrochen ist. Anzeichen von Ausschreitungen gibt es keine. Die polnischen Fans geben sich als wahre Sportsmänner und gratulieren fair zum deutschen Sieg und auch sonst feiern die beiden Fangruppen ausgelassen. Auf unserem Weg in Richtung Hauptbahnhof wird es plötzlich wild. Auf dem Westenhellweg umstellen Polizeibeamte eine Gruppe polnischer Hooligans, keine 50 Meter davon entfernt zerren vier Beamte einen deutschen Hooligan in den Polizeiwagen, in dem schon zahlreiche Gewalttäter auf ihren Kollegen warten. Einige Fans applaudieren den viel beschäftigten Beamten. Als wir am Hauptbahnhof Zuflucht vor dem aufkommenden Platzregen suchen sperrt die Polizei plötzlich den gesamten Bahnhof ab. Zuerst wissen wir nicht was hier passiert, da es unter den hier wartenden Fans jedoch ruhig bleibt warten wir und unterhalten uns mit einem Beamten, der uns von geschätzten 150.000 Menschen (!) in der Dortmunder Innenstadt (inkl. Stadion, Westfalenhallen, Friedensplatz etc) erzählt.

Als der Regen aufhört treibt uns unser Durst dazu eine Kneipe am Alten Markt oder an der Kleppingstraße aufzusuchen. Auf dem Weg treffen wir auf einen alten Schulfreund, der uns von wilden Verfolgungen in der Innenstadt vor dem Spiel berichtet. Bei seiner Suche nach einem noch freien Eingang zum Friedensplatz geriet er in eine Hetzjagd deutscher Hooligans, die zahlreiche Polen durch zwei Straßen verfolgten, ehe sie von den Einsatzkräften umkesselt und festgenommen wurden.

Unsere gute Laune wird von diesen traurigen Berichten kaum beeinflusst. Die Stadt ist auch zwei Stunden nach dem Sieg noch proppenvoll. Die Menschen feiern und feiern und feiern. Auf dem Alten Markt haben die Kneipen längst dicht gemacht. "Spätestens nach dem hier Tische und Stühle flogen haben wir unseren Laden dicht gemacht?, so die überforderte Barfrau vor dem Thier-Brauhaus, die immer wieder feiernde Menschen vom Eingang fernhalten muss. Der Brunnen vor ihrer Haustür ist seit dem Abpfiff umringt von feiernden Deutschen. Wir besteigen den Brunnen mit unserem drei Meter Banner ?Dortmund steht hinter Euch? in den Nationalfarben und dem Logo einer Nicht-Dortmunder Brauerei, die daher auch nicht namentlich erwähnt wird.  Neben uns gesellt sich ein feiernder Spanier, mit dem wir kurzerhand ein Wiedersehen zum Finale aushandeln, ehe vor uns eine bengalische Fackel gezündet wird. Der Brunnen erstrahlt plötzlich in einem leuchtenden Rot. Davor beziehen bereits drei Fotografen Stellung und schießen die wohl schönsten Fotos des Abends. Genau an der Stelle, an der um acht Uhr deutsche und polnische Hooligans randalierten und den Fußball als Bühne ihrer geballten Dummheit beschmutzten, feiern Fans beider Lager ein friedliches Fußballfest, wie es schöner nicht hätte sein können. Immer wieder liegen wir uns in den Armen und singen mit leicht angeschlagener Stimme ?oh wie ist das schöööön? ? kaum auszudenken was in dieser fußballbegeisternden Stadt los ist, wenn wir wirklich Weltmeister werden würden.

Nicht nur einmal überkommt einem das Gefühl des Stolzes und der Freunde, dass sich zehntausende Menschen von keinen Hooligans dieser Welt ein Fest der Freude und Freundschaft kaputtschlagen lassen. Nach einem weiteren feucht fröhlichen und vor allem stimmungsreichen Aufenthalt in einer griechischen Kneipe an der Reinoldikirche treten wir irgendwann gegen vier Uhr den Heimweg an. Neun Stunden und ein ausgiebiges Frühstück später schlendern wir zu viert durch die Innenstadt auf der Suche nach einem gemütlichen Straßencafé. Auf dem alten Markt herrscht wieder reger Betrieb. Die Bars und Kneipen haben seit den Morgenstunden wieder geöffnet und werden von Menschen in England-, Spanien- und Deutschlandtrikots besucht. Das einzige, was an die Fußballnacht von gestern erinnert ist eine vergessene Deutschland-Fahne oben auf dem Brunnen, die einsam im Wind flattert.

Die Bilder der Zerstörung sind nur noch in den Tageszeitungen der Stadt anzugucken. In den Köpfen der Menschen bleiben die Bilder feiernder Menschen, die unserer Stadt und der Weltöffentlichkeit gezeigt haben, dass wir unser Fußball-Fest von keinen Menschen zerstören lassen, die durch jeden Schlag ihrer eigenen, unendlichen Dummheit freien Lauf lassen.

, 16.06.2006

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