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Der große Traum ist ausgeträumt

Trost vom Klinsi für den Schweini.

Trost vom Klinsi für den Schweini.

Sie konnten die Rechnung nicht begleichen: Wie schon Anfang März im Testspiel, so konnte die deutsche Nationalmannschaft auch gestern Abend nicht gegen die ?Squadra Azzura? aus Italien gewinnen. Nur war es diesmal kein Testspiel, sondern das WM-Halbfinale. Dementsprechend entsetzt reagierte die gesamte Fannation, die von Flensburg bis Burghausen das Halbfinale auf Großleinwänden verfolgt hatte. Die kämpferische und willenstarke Leistung mit der Klinsmanns Elf gestern gegen Italien ausschied ist zwar nicht einmal ansatzweise mit der pomadigen und lustlosen Darbietung von vor vier Monaten zu vergleichen, doch für ein Land in völliger Ekstase treffen die Tore von Grosso und Del Piero in der 119. und 121. Minute mitten ins Herz und wiegen schmerzhafter als die Schmach von Florenz.

So kurz nach dem Spiel fällt es für manch einen sicherlich schwer die aufbauenden Worte zu hören. Zu tief sitzt die Trauer nach dem nicht unverdienten, aber zu dem Zeitpunkt äußert unglücklichen Ausscheiden. Wenn Jürgen Klinsmann davon spricht, dass wir ?stolz? sein können, ?stolz? auf die Leistung der Mannschaft, auf den Willen und den erfrischenden Angriffsfußball, so hat er absolut Recht. Nur fällt es schwer dafür Gehör zu finden in einem Land das gerade erst sein Nationalbewusstsein wieder gefunden hat und in dem ?Flagge zeigen? so modern ist wie nie zuvor. Doch wenn einer in der Lage ist uns Deutschen die Trauer zu nehmen und gestärkt in die im September beginnende EM-Qualifikation zu gehen, dann ist es unser Bundestrainer, Jürgen Klinsmann. Oft wurde er kritisiert, kaum einer hat ihm zugetraut solch einen erfolgreichen Weg einzuschlagen. Die konsequente Linie aber, die er und Joachim Löw durchgezogen haben, sind letztendlich dafür verantwortlich, dass Deutschland überhaupt daran geglaubt ?Weltmeister? werden zu können.

Letztes Einschwören vor der Verlängerung: Es half nicht.

Letztes Einschwören vor der Verlängerung: Es half nicht.

Die Millionen Fans, die Tag für Tag geschlossen wie eine Wand hinter ihrer Nationalmannschaft gestanden haben, können fürs erste nur noch Stoßgebete gen Himmel senden, dass die kommenden Gespräche zwischen Klinsmann und seiner Frau mit einer Vertragsverlängerung seitens des Wahl-Amerikaners enden. Der DFB, in Person von Theo Zwanziger, hat indes schon klare Bereitschaft signalisiert: ?Klinsmanns Weg ist richtig. Und ich will diesen Weg weitergehen.? Klinsmann selbst hat seine Bedeutung für den deutschen Fußball erkannt. Durch ihn und seine teilweise unkonventionellen Trainingsmethoden (wie die amerikanischen Fitnesstrainer) haben er und seine Mannschaft, wie er selbst sagt, ?der Welt das neue Gesicht der deutschen Mannschaft gezeigt.? Nun liegt es einzig und allein an ihm und seiner Familie diesen Weg weiterzugehen. Die Rückendeckung hat er.

Gestern Abend sollte es einfach nicht sein. Nach dem ebenso sensationellen wie kraftraubenden Viertelfinalspiel gegen die Südamerikaner aus Argentinien, vermochte es die deutsche Nationalmannschaft gegen Italien nicht einen ähnlichen Kraftakt zu leisten. Zudem hatte die ?Squadra Azzura? ihrerseits im Spiel zuvor gegen die Ukraine einen vergleichsweise leichtes Spiel, welches sie ohne große Anstrengungen schon zur regulären Spielzeit deutlich mit 3:0 für sich entscheiden konnte.
Deutschland begann ohne den von der FIFA gesperrten Torsten Frings und ohne Bastian Schweinsteiger, den der deutsche Trainerstab nach zuletzt eher durchwachsenden Auftritten aus der Startelf nahm. Dafür agierten der Dortmunder Sebastian Kehl und der Bremer Tim Borowski im Mittelfeld uns sollten die Räume der gefürchteten italienischen Offensive eng machen. Marcello Lippi, Nationaltrainer Italiens, musste den verletzten Nesta ersetzen und brachte für ihn Materazzi.

Totti ausgeschaltet, aber wenig Zug in die Offensive: Michael Ballack

Totti ausgeschaltet, aber wenig Zug in die Offensive: Michael Ballack

Hinterher ist es natürlich leicht zu sagen, dass es mit Frings anders und vielleicht besser gelaufen wäre, deutlich wurde aber, dass es der Mannschaft sehr schwer gefallen ist seinen Ausfall zu kompensieren. Kehl, der bis dato gerade mal eine halbe Stunde während der WM gespielt hatte, konnte diese immens wichtige Position vor der Abwehr nur bedingt ausfüllen. Für die offensiven Bemühungen war es zweifelsohne ein gleichwertiger Ersatz, in der Defensive jedoch klaffte ein Loch, welches vordergründig von Michael Ballack geschlossen werden musste, was zur Folge hatte, dass dieser sich kaum in die Vorwärtsbewegung einschalten konnte und nicht so prägnant agierte wie in den Spielen zuvor. Die norwegische Zeitung Dagbladet mutmaßt daher, ?dass vielleicht alles anders gekommen wäre, hätte sich Frings nicht zu dieser Tätlichkeit hinreißen lassen". Eine Meinung mit viel Konjunktiv, die aber nach einer so knappen Partie den Stellenwert von Torsten Frings deutlich macht.

Allerdings hatte aber auch niemand ernsthaft damit gerechnet, dass die italienische Nationalmannschaft derart offensiv agieren würde wie sie es letztendlich über 120 Minuten vorführte. Nominell traten sie mit Luca Toni nur mit einer Spitze an, der allerdings von Totti in seinen Bemühungen immer wieder unterstützt wurde. Mit Pirlo als Taktgeber im zentralen Mittelfeld versuchten es die Italiener immer wieder über außen mit Grosso über links und Camoranesi über rechts zum Erfolg zu kommen. Besonders Lahm auf der linken deutschen Defensivseite hatte mit seinem Gegenspieler einige Probleme und ließ sich des Öfteren überlaufen oder wusste sich nur mit Fouls zu helfen. Leider wusste der Münchener wie schon zuletzt gegen die ?Albiceleste? aus Argentinien nicht zu überzeugen und war ? so hart es auch klingt ? die Schwachstelle in der deutschen Verteidigung. Sein Pendant auf der rechten Seite dagegen, Arne Friedrich, konnte zwar nicht ganz an seine überragende Leistung vom Viertelfinale anknüpfen, spielte aber über weite Strecken des Spiels sehr solide und avancierte im Laufe des Turniers zu einer festen Größe in Klinsmanns Hintermannschaft.

Abgemeldet: Luca Toni hatte gegen Mertesacker keine Chance.

Abgemeldet: Luca Toni hatte gegen Mertesacker keine Chance.

Dass die Italiener aber so lange brauchten, um zum Erfolg zu kommen, lag zum einen an der Innenverteidigung um Per Mertesacker und Christoph Metzelder, die das Spiel über eine einwandfreie Leistung zeigten und sowohl Toni als auch den später eingewechselten Gilardino praktisch ganz aus dem Spiel nahmen. Die Beiden sind mittlerweile nahezu perfekt auf einander abgestimmt, kennen ihre Bewegungsabläufe in- und auswendig. Für die Nationalmannschaft wäre es daher äußerst positiv, wenn sie demnächst auch national bei dem gleichen Verein spielen würden. Ob bei Bremen, Dortmund oder Hannover spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle, wichtig wäre nur, wenn dieses Duo auch weiterhin zusammen harmonieren würde. Konnten sich die Italiener dann allerdings einmal durchsetzen, war Jens Lehmann stets zu Stelle oder sie scheiterten am Aluminium. ?Mad Jens? konnte sich zwar fast das gesamte Turnier über nur selten durch Glanzparaden auszeichnen, ? sieht man einmal von dem Elfmeterschießen gegen Argentinien ab ? koordinierte seine Vorderleute aber so gut, dass diese fast keine Chancen zuließen. Er kritisierte seine Abwehr, rüttelte sie ab und an wach, motivierte sie und gab ihnen letztendlich die Sicherheit, dass er im Zweifelsfall ihre Fehler parieren würde.

Nur was hilft dir eine funktionierende Abwehr, wenn Mittelfeld und Sturm nicht in der Lage sind dem Spiel ihren Stempel aufzudrücken? Sicherlich hatte die Mannschaft ihre Chancen, besonders durch Lukas Podolski und Bernd Schneider, doch man hatte nie das Gefühl, dass bald ein Tor fallen würde. Oftmals waren Ballack und Kehl zu sehr mit der Defensive beschäftigt, um die entscheidenden Impulse nach vorne zu geben. So hingen die Stürmer Klose und Podolski lange Zeit in der Luft und konnten nicht das erhoffte Offenspecktakel entfachen. Als dann gut 20 Minuten vor Ende der regulären Spielzeit der selbstbewusste Borowski durch den leider wieder selbst verliebten Schweinsteiger ersetzt wurde, funktionierte offensiv noch weniger. Der 21-Jährige nämlich suchte zu oft die 1:1-Situationen und verlor sie zudem größtenteils. Auch seine Flanken und Standardsituationen fanden keinen Abnehmer und so gehört Schweinsteiger, nach seinen überragenden Leistungen in der Vorbereitungen, zu den Verlierern des Turniers.

Bilder, die man aus Italien kennt.

Bilder, die man aus Italien kennt.

Das spielentscheidende Tor zum 1:0 für die Südeuropäer fiel letztendlich nach einer Standardsituation. Nach einer Ecke von Del Piero kam Andrea Pirlo vor dem deutschen Strafraum in Ballbesitz und passte den Ball auf Italiens Linksverteidiger Grosso, der alleingelassen im 16-Meterraum stand und die Vorlage mustergültig mit einem Linksschuss aus zwölf Metern ins linke Eck vollendete. Die deutsche Mannschaft, sichtlich geschockt, warf nun alles nach vorne, um mit einer letzten Chance vielleicht doch noch den Ausgleich zu erzielen. Doch die euphorisierte ?Squadra Azzura? ließ sich diesen Triumph nicht mehr nehmen und setzte mit dem 2:0 von Del Piero den endgültigen Todesstoß. Wie die dänische Zeitung Ekstra Bladet richtig analysierte, hatte die deutsche Mannschaft ?auf das Elfmeterschießen spekuliert, die Rechnung aber ohne die Italiener gemacht". Es bleibt festzuhalten, dass man mutiger hätte nach vorne spielen müssen, um zu verhindern, dass die Italiener sich derart entfalten konnten.

Vorbei ist das Turnier mit dem Ausscheiden im Halbfinale aber noch nicht. Denn, wie es bei Weltmeisterschaften üblich ist, werden die Deutschen noch im Spiel um den dritten Platz antreten, um mit einem Erfolg dieses großartige Turnier, welches von Blatter, ?als die beste WM aller Zeiten? bezeichnet wurde, zu beenden. Danach stehen dann wieder neue Aufgaben vor der DFB-Elf, die dann hoffentlich immer noch von Jürgen Klinsmann trainiert wird. Bei der EM 2008 sollte man dann wieder von vorne herein zum Favoritenkreis zählen. Ein deutscher Fan drückte es möglicherweise am prägnantesten aus: ?Diese Mannschaft hatte bei der WM nicht ihren Höhepunkt, sie steht erst am Beginn einer neuen Ära!?

, 05.07.2006

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