Magazin für Freunde des Fußballs und seiner Kultur

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Fußball wie in der Oper

English fan culture is dying, absolutely dying, sagt Dave Boyle vom englischen Fanverband ?Supporters Direct? und niemand weiß, wie viel er damit auch über die Zukunft des deutschen Fußballs aussagt.

Fußball im Jahr 2006!

Fußball im Jahr 2006!



Die Zeiten sind düster. Nicht weil der Fußball nicht wunderbar funktioniert und die Stadien von Woche zu Woche scheinbar noch voller und voller werden, sondern deshalb, weil kaum jemand die Veränderungen des Fußballs richtig bemerkt. Es ist eine schleichende Entwicklung, die sich da in den letzten zwanzig Jahren vollzogen hat. So makaber es ist, die Katastrophen von Heysel, Bradford und Hillsborough Mitte bis Ende der achtziger Jahre haben vor allem durch die Versitzplatzung in der Folgezeit den Wandel des Fußballs eingeleitet ? mit einem völlig offenen Ausgang. Der damals marode und häufig unansehnliche Sport mit einem Umfeld voll von ?Proleten? ? wie die Gesellschaft diese Bevölkerungsteile gerne bezeichnete ? hat sich ohne Zweifel gemausert und ist zu etwas geworden, was studierte Menschen ein ?massentaugliches Event? nennen. Multiplex-Arenen wurden in Deutschland aus dem Boden gestampft und locken eine eigenartige Publikumsdurchmischung an. Leute, die noch vor kurzem nie den Gedanken an ein Live-Spiel im Stadion verschwendet hätten, glauben nun, dass man dies auch ?unbedingt mal mitgemacht haben? müsse - wie meine 65jährige Tante, ohne Internet-Erfahrung und ohne eigenen DVD-Player, neulich nach einem Besuch des ehemaligen Westfalenstadions meinte. Ganz angetan von der tollen Atmosphäre und der Fahrt mit den ?echten Fans? in der S-Bahn lobte sie den Nachmittag als ?super Erlebnis?.

Mein Schwiegervater dagegen wird mindestens zwei Mal im Jahr in die Schalke-Arena eingeladen, weil die Firma eines Bekannten da eine Loge hat. So mit ?allem drum und dran?, wie er nach dem ersten Besuch noch freudestrahlend erzählte. Mittlerweile geht ihm dieses ganze Drumherum gehörig auf die Nerven: ?Eine Stunde vorher Bier trinken und Häppchen essen. In der Halbzeit Bier trinken und Häppchen essen. Und nach dem Spiel auch noch einmal dasselbe, damit man ja die viele Kohle, die die da bezahlt haben, auch wieder reinholt?. Die letzten beiden Male hat er freundlich aber bestimmt abgesagt.

In Bochum haben sie eine Gruppe von Cheerleadern engagiert, die in der Halbzeit zu austauschbaren Disco-Rhythmen ihren Popo ein bisschen durch die Gegend schwingen. Für wen und warum scheint niemand mehr so wirklich zu fragen, denn alle anfänglichen Proteste wurden mit dem Faustschlagargument abgewürgt, dass das sicherlich einige Leute das ganz toll finden würden und auf die müsse man Rücksicht nehmen. Eine absurde Gaga-Argumentation, die allerdings tatsächlich jeden Widerspruch beendete, weil vielen offensichtlich ihre Zeit und ihre Energien zu schade waren, dagegen weiter etwas zu tun. Und so springen die Mädels ? Gott sei Dank mittlerweile in kurzen Röckchen und nicht mehr in langen Hosen ? weiter wie auf Ecstasy über den grünen Rasen.
Früher war die Welt irgendwie noch in Ordnung

Früher war die Welt irgendwie noch in Ordnung



Stadionsprecher, die früher in wunderschönem Singsang ? wohin, wohin, zu Sinn, zu Sinn ? nicht viel mehr zu tun hatten, als eben diese Werbebotschaften oder  Mannschaftsaufstellungen und Tore durchzusagen, müssen mittlerweile als Entertainer durchs ?Stadion-TV? führen, wenn nicht gerade ohrenbetäubend laut irgendwelche Schlager- oder Chartmusik alle Sinne betäubt und Fangesänge wie Unterhaltungen unmöglich macht. Und häufig breitet sich dann spätestens bei Spielbeginn bei vielen so etwas wie eine stille Ohnmacht aus.      

Man muss abwarten, wohin sich der Fußball in den nächsten Jahren entwickeln wird. Die immer weiter fortschreitende Kommerzialisierung vollzieht sich in kleinen verdaulichen Häppchen und verhindert dadurch die objektive Wahrnehmung einer tatsächlichen Gefahr für das Spiel. So lange alles in einem übersichtlichen Rahmen bleibt, wird der Fußball in Deutschland wohl weiter funktionieren. Ernsthafte Fanproteste sind eh nicht zu fürchten, weil dazu erst einmal klare Fronten geschaffen werden müssten, die es trotz eines Sepp Blatters im Grunde nicht gibt. Einzig die Möglichkeit, die nicht mehr unmöglich erscheint, dass Fußball ?langweilig? wird, weil immer dieselben Vereine in den europäischen Ligen Meister werden, setzt momentan ein kleines Fragezeichen.

Auf der Insel scheinen die negativen Entwicklungen der letzten Jahre anscheinend jedoch schon die ersten Flurschäden angerichtet zu haben: Über die Atmosphäre in den meisten englischen Stadien sagt Dave Boyle: ?It?s like in the opera or in the theatre?. Sicherlich ein etwas überzeichnetes Bild. Wer sich aber einmal ausmalt, was passieren wird, wenn auch noch die Ultras in Deutschland einmal älter geworden sind, der mag erahnen, was dann auch hierzulande in den riesigen Arenen los sein wird. Der amerikanische Profisport lässt grüßen. Da bleibt eigentlich zum Schluss nur noch das Beten über: Und so lasst uns am Mittelkreis niederknien, den Blick nach oben richten und beten, dass der Fußball-Gott die Stille von uns fernhält? (und damit sind keine neuen Soundanlagen gemeint, liebe Funktionäre).

 , 29.03.2006

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