Magazin für Freunde des Fußballs und seiner Kultur

Wir über uns

 | 

Impressum
Home
Gelbfieber
Konferenz
Smalltalk
Abgegrätscht
Freier Raum
Kirsche-Shop
< September 2010 >
Mo Di Mi Do Fr Sa So
  1 2 3 4 5
6 7 8 9 10 11 12
13 14 15 16 17 18 19
20 21 22 23 24 25 26
27 28 29 30  

Nationalelf:

Redaktionssitz:

 <<< zurück

Scheiß 09. November 1989

Eigentlich geht mir unsere Zeit schon länger auf den Geist. Früher war zwar nicht alles besser, aber eindeutig einfacher. Rechts-links, schwarz-weiß, Schwule-Heteros, Dortmund-Schalke ? die Welt war in zwei Hälften geteilt und das war gut so. Und heute? Alles wischi-waschi!

Ironie macht die Sache auch nicht wirklich besser!

Ironie macht die Sache auch nicht wirklich besser!


Das ist mir zwar alles nicht neu, aber den Höhepunkt meiner völligen Orientierungslosigkeit habe ich an diesem, nicht nur für mich, denkwürdigen Freitag letzter Woche erlebt. Nach einem schweren Arbeitstag sitze ich mit meinem Mausi vor dem Fernseher und will nur noch alle Viere von mir strecken und mich körperlich und geistig erholen, als das Unheil über mir zusammenbricht. Mit dem Feierabendbier in der Hand schlummere ich beim Freitag-Abend-Kracher-Krimi im ZDF gerade ein bisschen weg, als mich die zarte, aber irgendwie fordernde Stimme meines Sofa-Engels unsanft in die Realität zurückholt. ?Was hältst du jetzt eigentlich von der Entscheidung??, fragt sie in meine innere Stille und ich zucke zusammen. Ich weiß natürlich von der ersten Sekunde an ganz genau, worauf sie anspielt, stelle mich aber zuerst einmal dumm: ?Was denn für eine Entscheidung, Bärchen??, frage ich so unbeteiligt wie nur eben möglich und vermeide beim blitzschnellen Aufspringen von der Couch jeden Blickkontakt mit ihr. Nur schnell in die Küche, die halbvolle Bierflasche gegen eine neue austauschen und dann nach zehn Minuten wiederkommen und so tun, als wäre nichts gewesen, denke ich, aber da hat sie mich schon an meiner linken Schulter gepackt. ?Sag schon, für wen bist du denn gewesen??, peitscht es mir ins Gesicht und ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Ich versuche mich loszureißen und davon zu rennen, doch der strafende Blick meines Mausis lässt mich taumeln und auf dem Boden zusammen sinken. Der Moment der Entscheidung ist gekommen!

Seit dem 09. November 1989 ist nichts mehr, wie es einmal war. Der Tag des Mauerfalls hat alle Wertmaßstäbe mit einem Ruck umgestürzt und eine Diktatur des ?Ja, aber? eingeführt, die die Welt zu einem großen Haufen von gleichgeschalteten Meinungsaffen werden ließ. Konnte ich zu anfänglichen Juso-Zeiten noch völlig unbedenklich jedem Genossen die Hand zum Gruße reichen, so schlichen sich bereits Stunden nach dem Untergang der DDR kapitalistische Agitatoren in die Gruppe ein. Neulich traf einen von diesen bei einem Anti-USA-und-Globalisierungs-Happening wieder. Wir quatschen ein bisschen und noch bevor er mich erkannte, hatte er mich schon an seinem unschlagbar renditestarken Hedgefond beteiligen wollen. Was für ein riesengroßer Scheiß, habe ich gedacht, wir stehen hier bei einem Treffen gegen diesen Kack-Kommerz und er kommt mit so was. Der Rendite wegen habe ich dann später natürlich ? mit einigen Bauchschmerzen - doch unterschrieben.

Ich weiß noch genau, wie ich vor diesem unsäglichen 09. November 1989 bedingungslos und blind hinter meinem VfL Bochum gestanden habe. Mein Verein, meine Spieler, mein Präsident ? das war eine Einheit, da konnten Hulk und Knight Rider sich gegen verbünden, wir hätten gesiegt. Schalker und Dortmunder habe ich mit dem Arsch nicht angeguckt und niemals hätte ich mir vorstellen können, auch nur einem dieser Menschen bei klarem Bewusstsein die Hand zu geben. Heute trinke ich mit der angeheirateten Schalker-Sippe Sauerländer-Veltins-Brühe und schreibe auf einer BVB-Seite Texte über die Schlechtigkeit des Fußballs im Allgemeinen und die komplizierte Liebe zu meinem VfL Bochum im Besonderen. Manchmal könnte ich über soviel Unentschlossenheit und Opportunismus morgens in mein eigenes Spiegelbild kotzen. 
Na, da macht Fußball Spaß, oder?

Na, da macht Fußball Spaß, oder?



Doch soweit kommt es dann Gott sei Dank doch nie, denn die Welt um mich herum ist ebenso schlecht und verdorben. Überall, wohin man schaut, sieht man den alltäglichen Wahnsinn, der uns langsam aber sicher gänzlich auszuhöhlen droht. Menschen, die für nichts mehr stehen und völlig flexibel an jeder Zapfsäule mit irgendeinem anderen schmierigen Öl aufgetankt werden können, um mal wieder in die genau entgegen gesetzte Richtung fort zu brausen. Mir will in diesem Zusammenhang einfach dieser Willi Lemke nicht mehr aus dem Kopf, den ich letzte Woche traf. Ein ganz großes Idol meiner Jugend ist er gewesen. Man, wie der dem Uli Hoeneß und den Bayern ordentlich kontra gegeben hat, das war vom Allerfeinsten. Und heute? Da heuchelt der Erfinder der immer noch für alle unfassbaren und stets aktuellen Hemdkragen-Werbung den ?wahren Fans? etwas von ?grässlicher? Kommerzialisierung mitten ins Gesicht und schämt sich nicht einmal mehr, noch nicht einmal ein bisschen dafür, dass er sein Fähnlein nun einfach andersrum in den Wind gehängt hat. Pfuideibel ist mir da schlecht geworden und jetzt hätte ich wirklich gerne einfach einmal losgekotzt, nur um für einen Moment die Scheiße aus meinem Kopf zu bekommen.

?Die Mauer muss weg?, haben wir noch Anfang dieses beschissenen ? wie wir ja heute wissen ? Jahrzehnts immer dann gegrölt, wenn ein Freistoß für unsere Mannschaft anstand. Wie naiv sind wir damals eigentlich gewesen, frage ich mich nun, wo ich die Hand meines Mausis auf der Schulter spüre und ihr scharfer Blick keinen Ausweg mehr für mich offen lässt. Noch für eine Sekunde denke ich nach, dann ist mir plötzlich alles egal und ich antworte ruhig aber bestimmt: ?Du willst also wissen, ob ich die Entscheidung unseres Teamchefs Klinsmann für richtig halte, Jens Lehmann anstatt des Tormanns Oliver Kahn als Nummer 1 bei der WM in den Kasten zu stellen? Ja? Dann pass mal auf, Mausi! Vor knapp 16 ½ Jahren hätte ich alles auf der Welt dafür gegeben, dass diese Scheiß-Mauer abgerissen wird. Wenn mich heute allerdings noch mal jemand fragen würde, mein liebstes Mausebärchen, dann wäre mir das genauso scheißegal, wie diese elende Frage nach Kahn oder Lehmann. Was einzig und allein zählt, ist doch, dass wir beide zusammen sind?, höre ich mich noch sagen und merke an dem schmerzhaften Klatschen einer Frauenhand auf meiner linken Wange, dass ich besser wie sonst auch immer geschwiegen hätte?

, 12.04.06 

 <<< zurück

Kirsche-Forum
BVB-Forum

Aktuelle Infos:

Medienkolumne:

Fan-Kolumne:

Fotos: